Der Kunst ihre [diversere] Freiheit: ALBERTINA MODERN Direktorin Angela Stief im Interview
Die ALBERTINA MODERN ist mit ihren außergewöhnlichen Ausstellungen seit Anfang 2020 das neueste Museum für zeitgenössischen Kunst in Wien. Mit der Eröffnung des zweiten ALBERTINA Standortes, in den Räumlichkeiten des aufwändig restaurierten Künstlerhauses, ist damit ein neues Zentrum für Contemporary Art entstanden, das von Direktorin und Chefkuratorin Angela Stief geleitet wird. Die Kunsthistorikerin und Kulturpublizistin spricht sich dabei in ihrer Funktion für eine Neuevaluation der kanonisierten Kunstgeschichte aus, wie sie im Interview mit #jungbleiben Magazin verrät, der noch immer mit einem hohen Anteil von männlichen Vertretern beherrscht wird.
Die aktuelle Ausstellung „Ways of Freedom. Jackson Pollock to Maria Lassnig“ zeigt das unbändige, freie Denken des Expressionismus, das in einer Zeit, wo Mauern wieder hochgezogen werden, mehr denn je gebraucht wird. Was ist Ihr Wunsch an die Kunst im derzeitigen Weltgeschehen?
Angela Stief: “Die Gesten der Befreiung in der Kunst, wie sie auch die Ausstellung ‘Ways of Freedom. Jackson Pollock bis Maria Lassnig‘ in der ALBERTINA MODERN zelebriert, haben wahrscheinlich gerade dann Hochkonjunktur, wenn der Zeitgeist in Konventionen oder gesellschaftspolitischen Korsetts zu erstarren droht. Mein Wunsch an die Kunst ist tiefe Gräben zu überbrücken und radikales Denken zu befrieden und zu solidarisieren.
“Mein großes Anliegen ist es die Kunst diverser zu machen.” – Angela Stief
Zeitgenössische Kunst erlebt nicht nur am Kunstmarkt einen Höhenflug, sondern auch in Museen. Entspricht es dem Zeitgeist sich Inspirationen aus Welten zu suchen, die erklärende bzw. kritische Perspektiven zu aktuellen Geschehen und Entwicklungen liefern?
Angela Stief: “Bestimmt. Ich glaube, dass die Gegenwartskunst viele Funktionen einnimmt, und sicher auch eine der Welterklärung und der Sinnstiftung. Kunstschaffende beschäftigen sich oftmals mit Themen, die den Menschen unter den Nägeln brennen. Kunst überschreitet aber immer auch die reale Welt und bietet Raum für Visionen, Hoffnungen und Wünsche. So kann Zukunft gebildet werden.”
Künstlerinnen und deren Repräsentation in einer männerdominierten Kunstbranche sind oft Diskussionsgegenstand. Setzt die ALBERTINA MODERN hier ein Statement?
Angela Stief: “Ja, auf jeden Fall. In der Ausstellung ‘Ways of Freedom. Jackson Pollock bis Maria Lassnig’ sind beispielsweise fast die Hälfte der Arbeiten von Frauen. Maria Lassnig steht gleichberechtigt neben Wolfgang Hollegha, Lee Krasner neben Jackson Pollock, Helen Frankenthaler neben Morris Louis, Joan Mitchell neben Sam Francis. Ich interessiere mich insbesondere für die Ergänzung und Neubetrachtung einer kanonisierten Kunstgeschichte und das heißt insbesondere auch die Inklusion und Wiederentdeckung von herausragenden weiblichen Oeuvres.”
Sie sind seit 2021 Direktorin der ALBERTINA MODERN. Welche Ziele haben Sie für das Haus in den nächsten Jahren?
Angela Stief: “Mein großes Anliegen ist es die Kunst diverser zu machen. Mit der Ergänzung und Erweiterung von musealen Sammlungen geht der unbedingte und aktuelle Anspruch nach Gleichberechtigung und Ausdrucksfreiheit einher. Die Vielfalt künstlerischer Herangehensweisen, stilistischer sowie inhaltlicher Zugänge stellt eine Bereicherung des kunsthistorischen Kanons dar. Ich setze mich daher für Künstlerinnen, BIPoC [Black Indigenous People of Color, Anm.] Positionen, Outsider, etc. ein.”
Mit „Andy Warhol bis Damian Hirst. The Revolution in Printmaking“ wird ab 24. Februar 2023 auch in der ALBERTINA MODERN die Geschichte der Druckgrafik beleuchtet. Worauf dürfen sich die Besucher:innen freuen?
Angela Stief: “Der zeitgenössische Part der großen Print-Ausstellung nach 1960 unterscheidet sich radikal von der Geschichte der Druckgrafik, wie er in fünf Jahrhunderten zuvor im historischen Ausstellungsteil ‘Dürer, Munch, Miró. The Great Masters of Printmaking’ in der ALBERTINA zu sehen ist. Drei Kriterien machen diese Revolution [ab 1960, Anm.] aus: Das Prinzip der Serialität und Wiederholung, das für Agnes Martin und Donald Judd typisch ist, die Monumentalisierung in großen Arbeiten von Anselm Kiefer bis Kiki Smith und der Siebdruck als neue Technik. Damit demokratisierte Andy Warhol das Kunstwerk in der Pop Art. Künstlerinnen wie Auguste Kronheim bedienen sich einer traditionellen Technik auch im Hinblick auf eine gesellschaftskritische und feministische Ausrichtung und holen die Realität in ihrer ganzen Grausamkeit ins Bild zurück. Die Schau verbindet Innovation und Tradition und zeigt in der ALBERTINA MODERN rund 100 – zum Teil großformatige – Schlüsselwerke der Kunstgeschichte nach 1960.”
Titelfoto © ALBERTINA, ALBERTINA MODERN